So unbeschwert und unbeirrt schwirrend, flatternd gegen die unendliche Luft. So brennend schön in der Nähe eines Atemzugs. Unter schwarzen Punkten flirrt samtenes Rot, das bald schon zu neuen Flügelschlägen ansetzt. Noch ist Zeit für einen Wunsch mit auf die Reise hinaus ins Himmelsblau. Über noch so viele Wiesen zu fliegen, so viele Blüten zu bestäuben, so vielen Herzen einen Traum zu schenken. Es bleibt die Sanftmut der Berührung. Eine Prise Nostalgie. Glück. Mitgetragen im nächsten Windhauch. Flieg.
Stellt euch vor, man würde eine Hin- und Rückreise unendlich oft wiederholen, irgendwann könnte man den Ausgangsort nicht mehr vom Zielort unterscheiden.
Die Distanz trennt Nahes von Fernem, legt man sie zurück, liegt plötzlich das vorher noch Nahe in der Ferne und die angebliche Ferne rückt immer näher. Wo also liegt nun das, wonach wir mit Vorliebe in der Ferne suchen, obwohl es sich meistens ganz in der Nähe befindet?
Einige der Leute treten die Anreise, andere die Rückreise an. Das Mädchen neben mir rutscht aufgeregt auf ihrem Sitz herum und wird ganz ruhig, scheint die Luft anzuhalten, als die Triebwerke einschalten, die Maschine ihre Fahrt beschleunigt und wir schliesslich mit Wucht gegen die Rückenlehne gepresst werden. Sie schaut dann ganz gespannt aus dem kleinen Fenster, als wolle sie sich die verschiedenen Grautöne der Wolken unter uns einprägen. Ich lese in einem französischen Buch, spüre dann ein schüchternes Tippen an meiner Schulter und werde in englischer Sprache gefragt, was denn "Geschenk" auf Französisch heisse. Nach bereitwilligem Antworten und Nachfragen meinerseits wechseln wir das angefangene Gespräch ins Deutsche, die Sprache, in der wir uns beide grad noch irgendwie mehr Zuhause fühlen. Vor ihr liegt ein einjähriger Aupair-Aufenthalt am Lac Léman, dies ist ihr erster Alleinflug. Sie scheint in mir die geeignete Begleitperson gefunden zu haben, die ihr viele der brennenden Fragen zu beantworten weiss. Ich hoffe, dadurch ihre Nervosität auf ein erträgliches Ausmass reduzieren zu können. Sie fragt mich gleich zu Beginn, ob ich hier wohne. Ich höre mich ja sagen und bin zugleich verwirrt. Das heisst ja wirklich, dass ich auf der Rückreise bin, doch war nicht meine Hinreise gewissermassen schon wie eine Rückkehr?
Heute passiere ich in Gedanken immer wieder den Zoll, gehe zum Gate, das mir die nahe Ferne oder die ferne Nähe verspricht und warte auf das Abheben des Flugzeuges.
Hervorgewagt aus düstrer Tiefe
Schattenbilder ausgemacht
Blicke, Stimmen, erste Briefe
betrübende Klarheit
Hinausgewagt in heitre Weiten
Flammengeister aufgewacht
Singen, Tanzen, Wellenreiten
betrügende Wahrheit
Manchmal fahre ich mit dem Fahrrad durch die Stadt und es ist, als hätten die Putzmaschinen früh morgens sämtliche Spuren und Geschichten vergangener Zeit weggefegt und Fassaden, Strassen und Plätze in eine künstliche Sauberkeit getüncht, deren Geschmack bitter auf den Lippen liegt. Allein die Kühle des Wassers unter den Brücken ist besänftigend. Die vielen sich vordrängenden Wörter fügen sich nicht zusammen und verharren in der Leere. Der Stift in der Hand zeichnet Kreise in die Luft, als möchte er am Rad der Zeit drehen.
Manchmal fahre ich mit dem Fahrrad durch die Stadt und es ist, als würde sie mich grüssen. Auf dem Plainpalais werden die Marktstände aufgestellt und Gemüse, Früchte und Gewürze oder Antiquitäten und Trödel ausgebreitet. Da ist wieder das Leben, von dem die Treppen, Mauern und Fenster erzählen. Die Stadt erwacht zu einem bewegenden Bilderbuch. Bunte Karussellfahrt, Wind im Haar, Sonne im Gesicht. Der Schwerkraft entzogen. Es bräuchte ganze Leinwände und Konzerthallen, Farbtöpfe und Aromen, um zu beschreiben, was sich den Sinnen bietet.
Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
In Champel liegt vor einem grossen Haus ein kleiner Park. Darin zwei Schaukeln, die mich in so mancher einsamen Stunde den Baumkronen näher gebracht haben. Ganz vorne eine Bank, von der aus man auf die Arve hinab sieht, die dort ihre letzten Mäander beschreibt, bevor sie ums Bout du Monde und dann unter verschiedenem Brückwerk hin zur Rhone, dem Ende ihres Seins fliesst.
Von diesem Ort aus habe ich, wie nirgendwo sonst, zahlreiche Gewitter von unbeschreiblicher Intensität beobachtet. Wenn sich die schwarzen Vögel in den Bäumen über dem Abgrund aufgebracht versammelten. Wenn sich das gelbliche Grau des Himmels nur vage vom Felsgrau des Salève unterscheiden liess. Wenn die schwüle Luft durch einen einzelnen Atemzug zu zerbersten drohte. Diese erwartungsvolle, ausdrucksstarke Stille, wie in einem Konzert, wenn die gespannten Bögen sehnsüchtig darauf warten, voller Leidenschaft über die Saiten zu streichen.
Dann die immer heftiger werdenden Windstösse, die schwere Regentropfen mit sich brachten, bevor sich der Himmel in Blitz und Donner zerriss, die die angespannte Luft allmählich zu entladen schienen. Jede Minute dieser Augenblicke schien nur dem Hier und Jetzt, dem Wesentlichen, dem Sein gewidmet. Alles andere verblasste daneben, wurde mit dem vielen Wasser, das der Himmel ausgoss, weggeschwemmt.
Das Kläffen des Nachbarhundes zerrt mich aus dem Schlaf. Kurz vor Mittag ein Kaffee und eine Zigarette an der Kälte. Man möchte meinen, dass mir davon schlecht geworden ist, doch es war das anschliessende Osterlamm, das mich kötzerte. Selbstverständlich erst nachdem ich das Tischgebet gesprochen hatte, nein, heruntergeleiert und wie immer befürchtet, aus lauter Gewohnheit und Automatismus ein Wort zu vergessen oder zu verwechseln. Grosse Dankbarkeit über das Amen, das meine Lippen verlässt und befreit.
Erneut gebe ich mich einer Diskussion über Glauben und dessen Auslebungsformen hin, über Religion und deren symbolische Aspekte. Beim Punkt der gregorianischen Gesänge angelangt überkommt mich das Verlangen, mich ans Klavier zu setzen und in andere Gefilde zu entgleiten.
Ich beginne mit Mussorgskis Larme. Gegen meinen Willen und trotz der winterlichen Kleidung spüre ich den sanften und warmen Hauch eines Kusses auf meiner Schulter. Mich schaudert beim anschliessenden Blick aus dem Fenster, vor dem der Schnee als dichter Vorhang fällt. Ich versuche mich mit dem Venezianischen Gondellied, das nicht nur meine Arme, sondern auch meine Seele schaukelt. Dann die Mondscheinsonate, über deren Läufe mit all den Kreuzen und Auflösungen meine Finger abermals straucheln.
Doch trennen kann ich mich noch nicht von Beethoven. Endlich wage ich mich in die Tiefen des ersten Satzes seiner Sonate Pathétique. Ich will das unterirdische Grollen hören und die aufstrebenden, engelsartigen Klänge der Oberstimme. Eine Zeit lang scheinen meine Finger der Melodie selbst zu gehorchen, gleiten mühelos über schwarze und weisse Tasten, ohne nach den absoluten Namen der Töne zu fragen. Dann aber der Teil, in dem die Angst zunimmt, meine Finger könnten die Noten vergessen haben und die richtigen Tasten nicht finden. Mit dem Wiedereinschalten der Gedanken und dem präzisen Blick auf die Linien vor mir fallen auch schon die ersten falschen Töne. Das Bild der perfekten Melodie ist sogleich zerstört und meine Finger wollen sich nicht mehr erinnern, nicht mehr die Verantwortung für weitere Fehlinterpretationen des Meisterwerks auf sich nehmen.
Da sitze ich nun, machtlos vor einer Vielzahl von Noten und Tasten, die darauf warten, dem Wunder der Musik weiter zu folgen. Doch jede falsch gedrückte Taste stösst unharmonische Klänge aus, die meine Ohren als Enttäuschung und Vorwürfe entgegennehmen. Der Mut, den Rest dieses Teils doch noch zusammenzuflicken und zu Ende zu bringen, verlässt mich.
Jetzt sind es die Tasten selbst, die mich vorwurfsvoll anstarren. Also lege ich andere Notenblätter auf die schmale Holzbank, auf der vor einer Woche noch eine Plüschschildkröte gesessen und meiner Nichte bei ersten, verzaubernden Klimperversuchen zugeschaut hat.
Eine neue Melodie. Ich erhoffe mir davon, vor meinem inneren Auge wieder dem Blick zu begegnen, der sich früher beim Zuhören, nein beim Mitleben unseres Liedes mit Glückstränen gefüllt hat. Doch die schwarze Tür des Todes verweigert dieses Treffen. Stattdessen verwischen meine eigenen Tränen das Notenbild.
Es nützt alles nichts, die Kälte lässt meine Finger erstarren. Das Tastendrücken hat nichts mehr mit den vor mir aufgestellten, wunderbar komponierten Melodien zu tun. Alles was ich noch vernehmen kann sind aneinander gereihte Töne, die nur mit viel Vorstellungsvermögen noch Bruchstücke eines Liedes von sich geben. Hinweg die Magie, hinweg auch die Zärtlichkeit des Kusses.
Ich drehe mich um und erblicke auf dem Sofa meine Eltern, zweien Vögeln auf der Stange gleich.
Es ist Zeit zu gehen, die Reise erneut anzutreten.
Unterwegs im Zug verstummt das Herunterfallen des Weiss, dieses liegt nun friedlich auf hügligen Feldern und hohen Tannenspitzen. Es verschwindet gänzlich nach dem Tunnel, dessen Ausgang den Ausblick über See und Rebberge eröffnet. Wie immer setzt mein Herz einen Schlag aus. Respire, höre ich eine Stimme mir zuflüstern. Unter einer Brücke steht eine Gruppe von Kindern, die dem Zug zuwinken. Winken sie dem Zug selbst, der in rastloser Eile in Richtung Lausanne weht, oder vielleicht doch uns Reisenden, die wir zu der Zeit noch von der Aussenwelt abgeschnitten sind? Dann endlich erkenne ich den Salève, kurz darauf die Bucht, wo normalerweise der Jet d’Eau sein Weiss versprüht.
Die Tram fährt nur bis Augustins. Ich steige mit den anderen Fahrgästen aus und warte auf die nächsten Wagen, die uns nach Carouge bringen sollen. Die Frau neben mir trägt eine Brille mit Gläsern in Tränenform. Bei ihrem Anblick möchte ich aber lieber schreien als weinen. Sie erinnert
mich an meine ehemalige Primarschulflötenlehrerin, deren klumpige Finger wie durch ein Wunder doch immer die richtigen Löcher des schmalen Instruments zudrückten.
Zuhause blicken mir nur noch vier weisse Wände entgegen, die meine stillen Schreie in mannigfaltiger Ausführung zurückwerfen. Einzig der Bonsai weiss ein schönes Schattenspiel auf das niederdrückende Nichts zu werfen. Die Rosen neigen schon ihre Köpfe.
Heute sitze ich wieder an meinem Tisch und blicke durch die entblätterten Bäume gegenüber hinüber zum Salève, so dass der Sendeturm zwischen zwei Ästen eingeklemmt scheint, die wie sehnsüchtig sich streckende Arme, nach der Richtung, in der auch die Sonne untergeht, dem Stamm entspringen, der leicht rechts hinter der Strassenlaterne angewurzelt steht.
Heute habe ich Lust, etwas zu erzählen.
Mein Blick schweift hinüber zu den paar Zacken und Spitzen, die ich hinter den vielen Schatten als Konturen eines schlossartigen Gebäudes auszumachen vermag. Vor zwei Wochen ungefähr hatte ich einen säuberlich handgeschriebenen, gefalteten Zettel aus dem Briefkasten gefischt. Das Mädchen von nebenan bat mich um Hilfe beim Lernen für ihre restlichen Prüfungen des neunten und letzten Jahres der obligatorischen Schulzeit. In Mathematik. Irgendwie habe ich mir erste, ungeäusserte Zweifel ausgeredet und zugesagt.
Inzwischen liegt das erste Treffen schon hinter uns. Es war auf jeden Fall sehr lehrreich. Nebst Pythagoras, Faktorzerlegungen und sonstigen Gleichungen und Ungleichungen hat mir das Mädchen, das ich schon beim ersten Besuch meiner Wohnung Klavier spielen gehört hatte, noch vieles Anderes wieder nahe gebracht. Sie spricht über die Entscheidung zwischen Lehre und Gymnasium, über Tagebuchschreiben in ihrem Zimmer, mit der Betonung, dass ihre Eltern nichts davon wissen, über die Liebesgeschichte einer Sterblichen und eines Vampirs, die sie derzeit ans Buch fesselt. Sie empört sich über den Italienischkurs, den sie besuchen muss, weil ja die Schweiz nicht in der EU ist, und sie sei doch Italienerin! Ihre Augen funkeln und leuchten mir ebenso entgegen, als sie mir von den Übersetzungen italienischer Lieder für ihre Freundinnen erzählt. Sie sei halt einfach eine Träumerin, und Mathe, das wäre nichts für sie.
Noch heute schwirren einige dieser Ausdrücke, die sie gebraucht hat, oder die ich nun auch auf Französisch in mein semantisches Wortfeld Mathematik aufnehmen kann, in meinem Kopf herum. Es war ein Treffen, bei dem mein Eingang zu ihrem Ausgang wurde, bei dem sie mich Zuhause mit auf Reisen nahm. Auch das fünfzehnjährige Mädchen in mir träumt weiter. Nur dass ich heute gespannt die nächste Mathestunde erwarte.
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