Das Kläffen des Nachbarhundes zerrt mich aus dem Schlaf. Kurz vor Mittag ein Kaffee und eine Zigarette an der Kälte. Man möchte meinen, dass mir davon schlecht geworden ist, doch es war das anschliessende Osterlamm, das mich kötzerte. Selbstverständlich erst nachdem ich das Tischgebet gesprochen hatte, nein, heruntergeleiert und wie immer befürchtet, aus lauter Gewohnheit und Automatismus ein Wort zu vergessen oder zu verwechseln. Grosse Dankbarkeit über das Amen, das meine Lippen verlässt und befreit.
Erneut gebe ich mich einer Diskussion über Glauben und dessen Auslebungsformen hin, über Religion und deren symbolische Aspekte. Beim Punkt der gregorianischen Gesänge angelangt überkommt mich das Verlangen, mich ans Klavier zu setzen und in andere Gefilde zu entgleiten.

Ich beginne mit Mussorgskis Larme. Gegen meinen Willen und trotz der winterlichen Kleidung spüre ich den sanften und warmen Hauch eines Kusses auf meiner Schulter. Mich schaudert beim anschliessenden Blick aus dem Fenster, vor dem der Schnee als dichter Vorhang fällt. Ich versuche mich mit dem Venezianischen Gondellied, das nicht nur meine Arme, sondern auch meine Seele schaukelt. Dann die Mondscheinsonate, über deren Läufe mit all den Kreuzen und Auflösungen meine Finger abermals straucheln.

Doch trennen kann ich mich noch nicht von Beethoven. Endlich wage ich mich in die Tiefen des ersten Satzes seiner Sonate Pathétique. Ich will das unterirdische Grollen hören und die aufstrebenden, engelsartigen Klänge der Oberstimme. Eine Zeit lang scheinen meine Finger der Melodie selbst zu gehorchen, gleiten mühelos über schwarze und weisse Tasten, ohne nach den absoluten Namen der Töne zu fragen. Dann aber der Teil, in dem die Angst zunimmt, meine Finger könnten die Noten vergessen haben und die richtigen Tasten nicht finden. Mit dem Wiedereinschalten der Gedanken und dem präzisen Blick auf die Linien vor mir fallen auch schon die ersten falschen Töne. Das Bild der perfekten Melodie ist sogleich zerstört und meine Finger wollen sich nicht mehr erinnern, nicht mehr die Verantwortung für weitere Fehlinterpretationen des Meisterwerks auf sich nehmen.

Da sitze ich nun, machtlos vor einer Vielzahl von Noten und Tasten, die darauf warten, dem Wunder der Musik weiter zu folgen. Doch jede falsch gedrückte Taste stösst unharmonische Klänge aus, die meine Ohren als Enttäuschung und Vorwürfe entgegennehmen. Der Mut, den Rest dieses Teils doch noch zusammenzuflicken und zu Ende zu bringen, verlässt mich.

Jetzt sind es die Tasten selbst, die mich vorwurfsvoll anstarren. Also lege ich andere Notenblätter auf die schmale Holzbank, auf der vor einer Woche noch eine Plüschschildkröte gesessen und meiner Nichte bei ersten, verzaubernden Klimperversuchen zugeschaut hat.

Eine neue Melodie. Ich erhoffe mir davon, vor meinem inneren Auge wieder dem Blick zu begegnen, der sich früher beim Zuhören, nein beim Mitleben unseres Liedes mit Glückstränen gefüllt hat. Doch die schwarze Tür des Todes verweigert dieses Treffen. Stattdessen verwischen meine eigenen Tränen das Notenbild.

Es nützt alles nichts, die Kälte lässt meine Finger erstarren. Das Tastendrücken hat nichts mehr mit den vor mir aufgestellten, wunderbar komponierten Melodien zu tun. Alles was ich noch vernehmen kann sind aneinander gereihte Töne, die nur mit viel Vorstellungsvermögen noch Bruchstücke eines Liedes von sich geben. Hinweg die Magie, hinweg auch die Zärtlichkeit des Kusses.

Ich drehe mich um und erblicke auf dem Sofa meine Eltern, zweien Vögeln auf der Stange gleich.

Es ist Zeit zu gehen, die Reise erneut anzutreten.

Unterwegs im Zug verstummt das Herunterfallen des Weiss, dieses liegt nun friedlich auf hügligen Feldern und hohen Tannenspitzen. Es verschwindet gänzlich nach dem Tunnel, dessen Ausgang den Ausblick über See und Rebberge eröffnet. Wie immer setzt mein Herz einen Schlag aus. Respire, höre ich eine Stimme mir zuflüstern.
Unter einer Brücke steht eine Gruppe von Kindern, die dem Zug zuwinken. Winken sie dem Zug selbst, der in rastloser Eile in Richtung Lausanne weht, oder vielleicht doch uns Reisenden, die wir zu der Zeit noch von der Aussenwelt abgeschnitten sind? Dann endlich erkenne ich den Salève, kurz darauf die Bucht, wo normalerweise der Jet d’Eau sein Weiss versprüht.
Die Tram fährt nur bis Augustins. Ich steige mit den anderen Fahrgästen aus und warte auf die nächsten Wagen, die uns nach Carouge bringen sollen. Die Frau neben mir trägt eine Brille mit Gläsern in Tränenform. Bei ihrem Anblick möchte ich aber lieber schreien als weinen. Sie erinnert

mich an meine ehemalige Primarschulflötenlehrerin, deren klumpige Finger wie durch ein Wunder doch immer die richtigen Löcher des schmalen Instruments zudrückten.
Zuhause blicken mir nur noch vier weisse Wände entgegen, die meine stillen Schreie in mannigfaltiger Ausführung zurückwerfen. Einzig der Bonsai weiss ein schönes Schattenspiel auf das niederdrückende Nichts zu werfen. Die Rosen neigen schon ihre Köpfe.

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