Heute sitze ich wieder an meinem Tisch und blicke durch die entblätterten Bäume gegenüber hinüber zum Salève, so dass der Sendeturm zwischen zwei Ästen eingeklemmt scheint, die wie sehnsüchtig sich streckende Arme, nach der Richtung, in der auch die Sonne untergeht, dem Stamm entspringen, der leicht rechts hinter der Strassenlaterne angewurzelt steht.
Heute habe ich Lust, etwas zu erzählen.

Mein Blick schweift hinüber zu den paar Zacken und Spitzen, die ich hinter den vielen Schatten als Konturen eines schlossartigen Gebäudes auszumachen vermag. Vor zwei Wochen ungefähr hatte ich einen säuberlich handgeschriebenen, gefalteten Zettel aus dem Briefkasten gefischt. Das Mädchen von nebenan bat mich um Hilfe beim Lernen für ihre restlichen Prüfungen des neunten und letzten Jahres der obligatorischen Schulzeit. In Mathematik. Irgendwie habe ich mir erste, ungeäusserte Zweifel ausgeredet und zugesagt.


Inzwischen liegt das erste Treffen schon hinter uns. Es war auf jeden Fall sehr lehrreich. Nebst Pythagoras, Faktorzerlegungen und sonstigen Gleichungen und Ungleichungen hat mir das Mädchen, das ich schon beim ersten Besuch meiner Wohnung Klavier spielen gehört hatte, noch vieles Anderes wieder nahe gebracht. Sie spricht über die Entscheidung zwischen Lehre und Gymnasium, über Tagebuchschreiben in ihrem Zimmer, mit der Betonung, dass ihre Eltern nichts davon wissen, über die Liebesgeschichte einer Sterblichen und eines Vampirs, die sie derzeit ans Buch fesselt. Sie empört sich über den Italienischkurs, den sie besuchen muss, weil ja die Schweiz nicht in der EU ist, und sie sei doch Italienerin! Ihre Augen funkeln und leuchten mir ebenso entgegen, als sie mir von den Übersetzungen italienischer Lieder für ihre Freundinnen erzählt. Sie sei halt einfach eine Träumerin, und Mathe, das wäre nichts für sie.


Noch heute schwirren einige dieser Ausdrücke, die sie gebraucht hat, oder die ich nun auch auf Französisch in mein semantisches Wortfeld Mathematik aufnehmen kann, in meinem Kopf herum. Es war ein Treffen, bei dem mein Eingang zu ihrem Ausgang wurde, bei dem sie mich Zuhause mit auf Reisen nahm. Auch das fünfzehnjährige Mädchen in mir träumt weiter. Nur dass ich heute gespannt die nächste Mathestunde erwarte.

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